Dieser Artikel ist eine wörtliche, unverfälschte Transkription des Originalartikels aus dem Jahre 1905.
Aus heutiger Sicht fragwürdige Ausdrucksweisen und Inhalte, sowie variierende Rechtschreibung sind nicht ausgeschlossen, wurden aber zwecks Authentizität nicht zensiert.
Tiefe Dunkelheit liegt über dem dichtgefüllten Saal. Nur aus einer kleinen Luke in der Wand gegenüber der Bühne fällt ein weißer Lichtkegel auf die Leinwand, welche die Stelle des Vorhangs einnimmt. Auf der grell beleuchteten Fläche ziehen allerlei stark bewegte Bilder als täuschender Spiegel des wirklichen Lebens vorüber: die interessanten Phasen eines Ringkampfes, aufregende Szenen aus dem russisch-japanischen Kriege, das wandelnde Panorama einer von der Lokomotive eines Blitzzuges aus aufgenommenen Landschaft und vieles andere mehr.
Aber das Publikum hat heute nur geringe Aufmerksamkeit für alle diese schönen Dinge, und mit Ungeduld sieht es der Schlußnummer entgegen. Denn das Programm verheißt eine außergewöhnliche Sensation: Die Vorführung des Attentats auf den Großfürsten Sergius von Rußland, der im Bereich des Kreml zu Moskau einem Bombenanschlage zum Opfer fiel. Man ist voll äußerster Spannung, aber in diese Spannung mischt sich bei einigen skeptisch veranlagten Naturen eine beträchtliche Dosis von Mißtrauen gegen den merkwürdigen Zufall, der den Photographen mit seinen komplizierten kinematographischen Aufnahmeapparaten gerade im Augenblick der Tat auf den Schauplatz des Ereignisses geführt haben soll.
Aber dieser dienstwillige Zufall scheint in Wahrheit noch viel seltsamer, ja auf eine geradezu wunderbare Weise gewaltet zu haben. Denn als nach einer kleinen Pause der Lichtkegel wieder auf die Leinwand fällt, sieht das Publikum zu seiner Überraschung sogar die Vorbereitungen der fanatischen Tat. In einem romantisch anmutenden Kellergewölbe sind die Verschwörer zu einer letzten entscheidenden Beratung versammelt, eine Anzahl charakteristischen Gestalten mit düsteren, entschlossenen Mienen, ganz so, wie sich die Phantasie des Zeitungslesers die fanatischen Nihilisten vorstellt. Das Los, das den Vollstrecker des über den Großfürsten gefällten Todesurteils bestimmt, wird gezogen, der Gewählte erklärt sich mit feierlichen Gesten zur Ausführung bereit, und man schreitet unverzüglich zur Herstellung der Bombe. Vor den Augen der von heimlichem Gruseln erfaßten Zuschauer wird sie mit Dynamit, Eisennägeln und anderen teuflischen Dingen gefüllt, natürlich unter Aufwendung aller gebotener Vorsicht, und nachdem sich die Verschwörer nochmals mit theatralischem Handschlag ihrer unverbrüchlichen Treue und Verschwiegenheit versichern, verdunkelt sich für die Dauer einiger Sekunden die Leinwand, um beim Wiederaufflammen des Lichtes eine völlig veränderte Szenerie zu zeigen: eine schneebedeckte Straße vor einem altersgrauen monumentalen Gebäude, dessen Fassade ungefähr bis zur Höhe des zweiten Stockwerks sichtbar ist. Auf den Gesimsen der Fenster liegt ebenfalls Schnee, und der Zuschauer bedarf keines besonderen Aufwandes an Phantasie, um sich in das winterliche Moskau und auf den durch seine stolzen Traditionen geheiligten Boden des Kreml versetzt zu glauben. Passanten kommen und gehen, Leute in gegürteten Kitteln und hohen Stiefeln, die Pelzmütze tief in die bärtigen Gesichter gedrückt.
Plötzlich eine Bewegung. “Der Großfürst kommt!” Die Neugierigen bleiben stehen und blicken nach rechts, von wo sich der Wagen des Gefürchteten nähert. Es ist nicht gerade eine Karosse von kaiserlicher Pracht, deren sich der einflußreiche Mann des Zarenreiches bedient. Die Pferde haben verzweifelte Ähnlichkeit mit gewöhnlichen Droschengäulen, und auch die Gangart, in der sie sich bewegen, ist der dieser edlen Rennern eigentümliche, langsame Zuckeltrab. Aber hinter dem Fenster des geschlossenen Wagens wird jetzt der Kopf des Großfürsten sichtbar, mit goldblinkendem Adlerhelm geschmückt und von frappanter Ähnlichkeit mit den aus den Zeitschriften bekannt gewordenen Bildnissen. Da löst sich aus der Menge ein Individuum los, in welchem der Eingeweihte Zuschauer sogleich den durch das Los bestimmten Attentäter wiedererkennt. Unbekümmert um die in mehreren stattlichen Exemplaren vertretenen Schutzleute nähert er sich mit seiner Bombe dem Wagen und schleudert den unheilvollen Behälter unter die Räder.
Da die Photographien glücklicherweise stumm sind, bleibt den Nerven der Zuschauer der ohrenbetäubende Knall erspart, der die Explosion begleitet haben muß, im übrigen aber läßt das Folgende an Anschaulichkeit und erschütternder Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Eine schwarze Rauchwolke steig auf, und dann verhüllt ein Nebel von Schnee und Stab sekundenlang den Schauplatz des grausigen Ereignisses. Noch ehe sie sich ganz verzogen hat, sieht man aus der Luft allerlei Trümmer und Bruchstücke des offenbar in tausend Stücke zerrissenen Wagens herabfallen. Und dann - einskalt rieselt es den Zuschauern über den Rücken - erblickt man auf dem Pflaster die Überreste des stolzen Gefährts, zerbrochene Räder, zerfetzte Polster, verbogene Eisenteile und einige andere schwer definierbare Gegenstände. Einige von den Augenzeugen des grausigen Vorganges sind mit erhobenen Händen davongestürzt, andere, beherztere, eilen herzu, und ein paar von den allerbeherztesten werfen sich auf den Attentäter, der nach vergeblichem Fluchtversuch und kurzem, erfolglosem Widerstande dingfest gemacht wird.
Namentlich diese Szene, bei der dem Mörder fast die Kleider vom Leibe gerissen werden und einige ganz ehrlich gemeinte Faustschläge fallen, ist von so überzeugendem Realismus, daß auch die zweifelsüchtigsten Zuschauer zu dem Glauben bekehrt werden, es müsse sich doch wohl um eine Aufnahme nach der Wirklichkeit handeln, um so mehr, als auch die nun folgende, wenig rücksichtsvolle Leibesvisitation des Verhafteten mit solcher Energie eigentlich nur von wirklichen, in Ausübung ihres Amtes befindlichen Polizisten vorgenommen werden kann.
Alles atmet erleichtert auf, als die Vorführung vorüber ist; denn es gehören wirklich schon recht starke Nerven dazu, einem solchen Vorgang ohne Grausen und mächtige innere Erregung zuzusehen. Voll Mitleid mit dem bedauernswerten Opfer eines vor nichts zurückschreckenden Fanatismus und voll ehrwürdiger Bewunderung für die großartigen Fortschritte der modernen Technik, die es sogar schon ermöglicht, derartige historische Ereignisse in all ihren Einzelheiten für die spätesten Geschlechter festzuhalten, gehen die Zuschauer nachhause.
Und doch bedarf es wohl für keinen Einsichtigen einer besonderen Versicherung, daß von einer kinematographischen Aufnahme des Attentats an Ort und Stelle nicht die Rede sein konnte, sondern daß es sich dabei lediglich um eine künstliche Nachahmung handeln kann.
In der Tat hat das Publikum - ähnlich wie bei sogenannten “Szenen vom Kriegsschauplatz” - nichts anderes zu sehen bekommen als eine gut inszenierte Komödie, deren Schauplatz nicht das Pilaster von Moskau, sonder ein für derartige Zwecke besonders eingerichteter großer Hofraum in Vincennes bei Paris gewesen ist. Der findige Unternehmer, der sich mit der Herstellung solcher Bilderreihen für öffentliche kinematographische Vorführungen befaßt, hatte die Unvorsichtigkeit, einigen Journalisten bei der Aufnahme des Moskauer Bombenattentats den Zutritt zu gestatten, und diese von Berufs wegen etwas indiskreten Herren beobachteten so wenig Verschwiegenheit über ihre Wahrnehmungen, daß auch wir heute in der Lage sind, unseren Lesern einen Blick hinter die Kulissen eines kinematographischen Ateliers zu gestatten.
Wenn es sich auch um eine an und für sich vielleicht tadelnswerte Täuschung des naiveren Publikums handelt,so verdient die Geschicklichkeit und Sorgfalt, mit der dabei zu Werke gegangen wird, immerhin eine gewisse Bewunderung. Ein großer Apparat von mehr als fünfzig Statisten mußte in Bewegung gesetzt werden, um den Anschlag in hinlänglich glaubhafter Weise zu veranschaulichen, und erst nach vielen umständlichen Proben konnte man zur Aufnahme der für die Vorführung bestimmten Bilder schreiten. Die Verschwörerszene bot in dieser Hinsicht noch verhältnismäßig die wenigsten Schwierigkeiten. Auch ein für die Darstellung des Großfürsten geeignetes Individuum war unschwer gefunden. Aber die Begleiterscheinungen der Explosion machten schon größere Vorbereitungen nötig. Das “monumentale” Gebäude im Hintergunde, das natürlicher nur ein gemalter Prospekt war, mußte zum Beispiel mancherlei Spuren der durch verstreute Sprengstücke angerichteten Zerstörungen zeigen.
Zu diesem Behufe wurden die Aufnahmen nach dem Schleudern der “Bombe” für eine Weile unterbrochen, und die geschickten Hände einiger Maler zauberten mit erstaunlich Geschwindigkeit allerlei Risse und Sprünge in das leinerne Mauerwerk, wie auch ein paar Pinselstriche hinreichten, die zerbrochenen Fensterscheiben in täuschendster Naturwahrheit herzustellen.
Für die Erzeugung der Rauchwolke genügte das Anzünden eines qualmenden Pulvers, der aufwirbelnde Staub aber ebenso wie die aus der Luft herabfallenden Trümmer dadurch in die Erscheinung gerufen, daß einige auf dem Dach des Schuppen postierte Arbeiter im gegebenen Augenblick mehrere mit Staub gefüllte Säcke aufschütteten und die bereit gehaltenen Gegenstände auf den Schauplatz der Katastrophe hinabwarfen. Da die mit beliebigen Unterbrechungen aufgenommen Bilder bei der Reproduktion selbstverständlich in ununterbrochener Folge gezeigt werden können, mußte der Eindruck ein vollkommen überzeugender sein.
Was aber den bewunderungswürdigen Realismus bei der Festnahme des Attentäter betrifft, so kam es dem Unternehmer sehr zu statten, daß er sich seine Statisten zumeist in jenen Kreisen der Pariser Bevölkerung gesucht hatte, für die mehr oder weniger ernsthafte Raufereien zu den auserlesenen Vergnügungen ihres irdischen Daseins gehören.
So kam es auf die natürliche Weise von der Welt, daß die maskierten Muschits und Moskauer Polizisten sich von der Begeisterung für die ihnen zuerteilte Rolle dem unglücklichen “Attentäter” gegenüber zu den kräftigen Handgreiflichkeiten hinreißen ließen, und daß die entscheidende “Aufführung” für den Talminihilisten beinahe schlimmer ausgegangen wäre, als seine Ergreifung für den wirklichen Mörder des Großfürsten ausging.
Wenn auch mancher unserer Leser nach den so gewonnenen Einblicken in die Geheimnisse des Kinematographen gerade den erschütterndsten Vorführungen dieses merkwürdigen Apparats fortan etwas weniger erregten Nerven zusehen dürfte, so wird er der Phantasie, der Erfindungsgabe und dem Regietalent der Erzeuger dafür vielleicht um so größere Anerkennung zu Teil werden lassen und wird sich anderseits an der Leichtgläubigkeit mancher Zuschauer belustigen, die auch das Unmögliche unbedenklich für Wirklichkeit nehmen, wenn es nur einen trügerischen Schein der Wahrhaftigkeit für sich hat.